Editorial zum openTA-Neuderscheinungsdients März 2017: Verfassungsverträgliche Technikgestaltung und sozial verantwortliches Handeln von Unternehmen
Bei der Auswahl der Bücher für die März-Ausgabe des openTA-Neuerscheinungsdienstes fiel mir gleich die Arbeit von Maria Henning-Schulz auf. Nicht nur, weil das Thema elektronische Wahlen (oder wie bei der Autorin ?Wahlgeräte?) eine gewisse Bedeutung und Konjunktur auch in TA-Kreisen hat (man findet etwa im openTA-Publikationsdienst die folgenden Titel von Goos; Haibl; Lindner et al.; Richter; Winkler), sondern weil mich die Diktion und die verwendete Terminologie an eine durchaus TA-nahe Forschergruppe erinnert hat, die 1986 unter der Leitung von Alexander Roßnagel in Darmstadt entstanden war (mittlerweile in Kassel): ?Provet ? Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung? ? und richtig, die Arbeit von Henning-Schulz über ?Transparente Demokratie: Verfassungsverträglichkeit elektronischer Wahlgeräte? [Inhaltsverzeichnis] ist im Umfeld von provet entstanden.
Provet hat zwar eine starke juristische Fundierung, war aber immer auch interdisziplinär aufgestellt und bestrebt ? in der Zusammenarbeit mit Informatikern ? die aus den juristischen Analysen herausgefilterten ?Normen? in konkrete Gestaltungsvorschläge für informationstechnische Systeme fließen zu lassen.
Dies ist auch paradigmatisch in der Arbeit von Maria Henning-Schulz zu erkennen. Im Klappentext heißt es dazu:
?Insgesamt verfolgt die Arbeit das Ziel rechtswissenschaftlicher Technikgestaltung. Sie beschränkt sich nicht nur auf die Darstellung und Bewertung vorhandener Systeme, sondern entwickelt eigene Ansatzpunkte zur Konstruktion verfassungsverträglicher elektronischer Wahlgeräte.?
So diskutiert sie beispielsweise im fünften Kapitel vor dem Hintergrund des Grundsatzes der ?geheimen Wahl? Varianten technischer Verifizierbarkeit. Im sechsten Kapitel wirft sie die Frage nach dem ?Recht auf mediale Selbstbestimmung? auf. Damit ist die Wahlfreiheit der Bürger gemeint, selbst entscheiden zu können, welche Zugangsmöglichkeiten sie zum Staat nutzen. Würde nur noch ein elektronisches Wahlverfahren angeboten, dann wäre die mediale Selbstbestimmung eingeschränkt. Das siebte Kapitel greift eine typische TA-Rhetorik auf, in dem in Kapitel 7.B nach den Chancen durch den Einsatz elektronischer Wahlgeräte und in Kapitel 7.C nach seinen Risiken gefragt wird und sie in Kapitel 7.E eine Abwägung zwischen Chancen und Risiken vornimmt. Schließlich wird in Kapitel 8 die rechtsverträgliche Technikgestaltung konkretisiert.
Ebenfalls in konstruktiver Absicht hat sich eine Praxis der Corporate Social Responsibility (CSR) entwickelt. So hat die EU zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung in Europa die Einführung einer CSR-Berichtspflicht für Unternehmen ab einer bestimmten Größe vorangetrieben (E-Richtlinie 2014/95/EU). Tilman Stechele untersucht die Folgen dieser Berichtspflicht für das Innovations- und Ressourcenmanagement in seiner Arbeit ?Mögliche Chancen und Auswirkungen einer CSR-Berichtspflicht in der EU: Herausforderungen für das Innovations- und Ressourcenmanagement am Beispiel der Textilindustrie? [Inhaltsverzeichnis]. Er konkretisiert diese Analyse anhand zweier Unternehmen aus der Textilindustrie (Puma und KiK).
Erneuter Szenenwechsel: Die Debatte um Entwicklung und Wandel der Wissenschaft war immer auch für die Technikfolgenabschätzung ein Thema. Mode 2, das Triple-Helix-Modell oder ?problemorientierte Forschung? sind Stichworte dieser Debatte. Die Historikerin Ursual Klein blickt nun ins 18. Jahrhundert zurück und verortet dort ?Die Erfindung der Technikwissenschaften?: ?Die wissenschaftlich-technischen Experten jener Zeit waren hybride Figuren zwischen intellektuellem Gelehrten und traditionellem Handwerker, und damit maßgeblich für die Produktion von nützlichem Wissen verantwortlich. Sie beteiligten sich an der Gründung von Berg-, Bau- und Forstakademien und entwarfen mit den 'nützlichen Wissenschaften' eine neuartige Wissenschaftskonzeption, mit der die Weichen für die modernen Technikwissenschaften gestellt waren.? Sowohl die gelehrten als auch die praktisch-technischen Traditionen wurden ?Ausgangspunkte für die ?nützlichen Wissenschaften? und einer neuartigen Konzeption von Wissenschaft, mittels derer wissenschaftlich-technische Expertise sozial organisiert, medial fixiert und institutionell reproduziert wurde?. In diesem Zusammenhang widerspricht sie der Auffassung, dass das Triple-Helix-Modell, also kurz gesagt die gegenseitige Beeinflussung von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, das üblicherweise als zeitgenössische Diagnose einer neuartigen, nicht mehr autonomen Wissenschaft gedeutet wird, nicht auch auf die weiter zurückliegenden Jahrhunderte angewendet werden könnte.
Weitere interessante Bücher des März-NED behandeln die Themen Steuerung und Selbststeuerung im frühen Industrie- und Sozialstaat, Teilhabe im Alter, Industrie 4.0, gewerblicher Schutz in der Biotechnologie, regenerative und dezentrale Energiesysteme, Faktoren der Innovation, Ethik im Cyberspace und anderes mehr. Insgesamt wurden aus 179 neu im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek gefunden Buchtitel 23 für den openTA-Neuerscheinungsdienst März 2017 als TA-relevant im weitesten Sinne herausgesucht. Im März waren darunter keine, die ? für uns erkennbar ? von persönlichen Mitgliedern des NTA stammten. Diese werden immer gesondert erwähnt.
Im Übrigen: ?TATuP - Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis? wird auch nach dem diesjährigen Relaunch wie bisher Rezensionen beinhalten. Die im NED enthaltenen Titel sind prinzipiell für eine Rezension in TATuP geeignet. Wenn Sie eine Rezension schreiben wollen, setzen Sie sich doch mit der Redaktion in Verbindung (redaktion@tatup.de).
Alle 23 Titel aus dem openTA-Neuerscheinungsdienst März 2017
1. Baden-Württemberg, Landeszentrale für Politische Bildung (2016): Politische Partizipation junger Menschen. Ulm: Süddeutsche Verlagsgesellschaft, Seite 223-364.
2. Barjenbruch, Matthias; Weidinger, Jürgen; King, Luise; Naimer, Markus; Köhl, Florian (2016): ZINGSTER reloaded. The future of a prefabricated housing estate in Berlin : an interdisciplinary research project. Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin, 3-7983-2848-X, 107 Seiten.
3. Bayer, Kurt; Giner-Reichl, Irene (2017): Entwicklungspolitik 2030 - auf dem Weg zur Nachhaltigkeit. Wien: MANZ'sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, 3-214-08336-8, 260 Seiten.
4. Collin, Peter (2016): Privat-staatliche Regelungsstrukturen im frühen Industrie- und Sozialstaat. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 3-11-037969-4, XIV, 209 Seiten.
5. Ehlers, Michael (2016): Herzlich willkommen im Datengefängnis. Wie wir zukünftig leben, lieben und einkaufen werden. Kulmbach: Plassen Verlag, 3-86470-355-7, 223 Seiten.
6. Glaab, Manuela (2016): Politik mit Bürgern - Politik für Bürger. Praxis und Perspektiven einer neuen Beteiligungskultur. Wiesbaden: Springer VS, [1. Aufl.], 3-658-12983-2, XII, 392 Seiten.
7. Hardensett, Heinrich; Bammé, Arno (2017): Philosophie der Technik. Marburg: Metropolis Verlag, 3-7316-1230-5, 392 Seiten.
8. Heitzmann, Daniela (2017): Fortpflanzung und Geschlecht. Zur Konstruktion und Kategorisierung der generativen Praxis. Bielefeld: transcript, [1. Auflage], 3-8376-3862-6, 363 Seiten.
9. Henning-Schulz, Maria (2016): Transparente Demokratie. Verfassungsverträglichkeit elektronischer Wahlgeräte. Baden-Baden: Nomos, 1. Auflage, 3-8487-2922-9, 402 Seiten.
10. Hildermeier, Julia (2016): How ideas change markets. Social and semantic construction(s) of automobility in 21st century Europe. Zürich: LIT, 978-3-643-90832-2, 199 Seiten.
11. Holl, David (2016): Biobased economy - Bioenergie. Eine Technologievorausschau anhand IT-gestützter bibliometrischer Analyse und Szenariotechnik. Ulm: ITOP Institute of Technology and Process Management, Ulm University, Prof. Dr. Brecht, VI, 88 Seiten.
12. Johnson, Steven (2017): Wo gute Ideen herkommen. Eine kurze Geschichte der Innovation. Köln: Anaconda, 3-7306-0446-5, 335 Seiten.
13. Klein, Florian (2016): Die Nachhaltigkeit der Genossenschaftsbanken. Eine empirische Analyse. Aachen: Shaker Verlag, 3-8440-4828-6, XXIV, 265 Seiten.
14. Klein, Ursula (2016): Nützliches Wissen. Die Erfindung der Technikwissenschaften. Göttingen: Wallstein Verlag, [1. Auflage], 3-8353-1958-2, 216 Seiten.
15. Lautenschläger, Sabine (2016): Nachhaltigkeitsbewertung von Kleinkläranlagen mittels Ökoeffizienzanalyse zur Ableitung von Produktverbesserungen. Abschlussbericht über ein Forschungsprojekt. Berlin: Logos Verlag, 3-8325-4368-6, XII, 121, 60 Seiten.
16. Naegele, Gerhard; Olbermann, Elke; Kuhlmann, Andrea (2016): Teilhabe im Alter gestalten. Aktuelle Themen der Sozialen Gerontologie. Wiesbaden: Springer VS, [1. Aufl. 2016], 3-658-12483-0, 523 Seiten.
17. Neugebauer, Reimund (2017): Ressourceneffizienz. Schlüsseltechnologien für Wirtschaft & Gesellschaft. Heidelberg: Springer Vieweg, 1. Auflage, 3-662-52888-6, X, 331 Seiten.
18. Ohly, Lukas (2017): Ethik im Cyberspace. Wien: Peter Lang Edition, 3-631-71487-4, 344 Seiten.
19. Sendler, Ulrich (2016): Industrie 4.0 grenzenlos. Heidelberg: Springer Vieweg, [1. Aufl.], 3-662-48277-0, XVI, 270 Seiten.
20. Sommer, Bernd (2017): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom, 3-86581-845-5, 233 Seiten.
21. Spengler, Oswald (2016): Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens. Waltersdorf: Schmidtsche Verlagsbuchhandlung, 2 CDs.
22. Stechele, Tilman (2016): Mögliche Chancen und Auswirkungen einer CSR-Berichtspflicht in der EU. Herausforderungen für das Innovations- und Ressourcenmanagement am Beispiel der Textilindustrie. Stuttgart: Fraunhofer Verlag, 3-8396-1101-6, iv, 83 Seiten.
23. Zogaj, Shkodran (2016): Governance of crowdsourcing systems. Managing crowdsourcing projects from a crowdsourcing system perspective. Kassel: Kassel University Press, 3-7376-5020-9, XXIII, 350 Seiten.
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