Vor noch einigen Jahren waren die Begriffe Self-Tracking, Lifelogging und Quantified Self dominante Keywords in sozial- und technikwissenschaftlichen Diskursen. In dieser Zeit wurde das Thema der digitalen Selbstvermessung in zahlreichen Büchern, Artikeln sowie auf Tagungen und Kongressen analytisch be- und wissenschaftlich verarbeitet. Längst stehen andere Themen – wie etwa die künstliche Intelligenz – im Rampenlicht der Techniksoziologie und der Technikfolgenabschätzung. Jedoch hat die Bearbeitung des Themas Self-Trackings noch viele theoretische Lücken offengelassen. Vor allem fehlt es weiterhin an einem zentralen konzeptionellen Ansatz zur Beschreibung dessen, was Self-Tracking eigentlich ist, wie es verläuft und wozu genau es dienen kann. Diese Fragen sind heute vielleicht noch bedeutsam denn je, zumal die Praxis des Self-Tracking sich mittlerweile in einer Vielzahl sozialer und institutioneller Kontexte sowie als Mittel der Pandemiebekämpfung (Corona-App) etabliert hat. Eben diesen Fragen widmet sich meine Dissertationsschrift Quantified-Self: Soziotechnisches System in der Genese des Selbst.
In meiner Arbeit nehme ich beispielhaft die unterschiedlichen Formen des Self-Tracking innerhalb der deutschen Quantified Self-Community in den Blick. Diese konzipiere ich als Gemeinschaft von Anwender*innen, Entwickler*innen und Anbieter*innen von Self-Tracking-Technologien. Im Rahmen ihres Credos Self-knowledge through numbers tauschen sich die Teilnehmer*innen der Community, die gemeinhin als ‚Avantgardistinnen‘ des Self-Trackings gelten, über den persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen des Self-Trackings aus.
Das Ziel meiner Forschungsarbeit war es, zu ergründen, wie sich das Self-Tracking praktisch vollzieht und theoretisch beschreiben lässt. Das spezifische Augenmerk richtete ich auch darauf, wie Mensch und Technik bei der Gewinnung analytischer Erkenntnisse über die eigene Person interagieren und welche Rolle hierbei dem Austausch in der Quantified Self-Community zukommt. Von Interesse war ebenso, wie die gewonnenen Informationen und Erkenntnisse reflektiert werden und wie sie zum Teil des eigenen Selbstkonstrukts gemacht werden. Diese analytischen Aspekte bündele ich in der zentralen Forschungsfrage: Wie kommen beim Self-Tracking das Selbst, die Technik und die Quantified Self-Community innerhalb der Selbstkonstruktion zusammen?
Auf der Suche nach einer Antwort bewegt sich meine Forschungsarbeit innerhalb der Fachbereiche allgemeine Soziologie, Techniksoziologie, empirische Methoden der Sozialforschung sowie Sozialpsychologie. Mit dem Ziel der Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie von Mensch, Technik und Community innerhalb der Selbstkonstruktion habe ich den methodischen Weg einer Triangulation zwischen analytischer Autoethnographie und Grounded-Theory-Methodologie beschritten. Der persönliche Vollzug eines einjährigen Self-Trackings-Projekts und die aktive Teilnahme an der Quantified Self-Community dienen mir dazu die zentralen Aspekte des Phänomenbereichs herauszuarbeiten. Die autoethnografisch gewonnenen Erkenntnisse habe ich anschließend, im Lichte eines praxistheoretischen Grundverständnisses sowie unter Einbezug theoretischer Konzeptionen der Begriffe des Selbst, der Technik und der Gemeinschaft bzw. Community, schrittweise in ein theoretisch sensibilisierendes Konzept überführt. Dieses Konzept entwirft das Self-Tracking als heterogener, epistemischer Praxisverbund der Planung, Generierung und Reflexion eines Digitalen-Selbst. Ein solcher Praxisverbund impliziert variierende soziotechnische Konstellationen zwischen den Nutzer*innen und technischen Artefakten, innerhalb dessen sich divergierenden Handlungsträgerschaften unterscheiden lassen. Die Quantified Self-Community konzipiere ich als eine Community-of-Practice, d. h., eine praxisbezogene Gemeinschaft von Teilnehmer*innen, die sich innerhalb des Interessensgebiets der Selbsterkenntnis durch Zahlen über die gemeinsame Praxis des Self-Trackings austauschen. Mein entwickeltes sensibilisierendes Konzept lieferte mir die notwendige theoretische Sensibilität für eine vertiefende Analyse im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie. Der User-Generated-Content der Social-Media-Kanäle der Quantified Self-Community diente mir dabei als Datenbasis.
Ein zentrales Ergebnis meiner Forschungsarbeit ist das theoretisches Verständnis des Self-Trackings als eine verwissenschaftlichte Selbstkonstruktion und Selbstgestaltung. Die Entdeckung spezifischen Erkenntnisinteressen als Ausgangspunkt von Self-Tracking-Praxen erlauben mir die Entwicklung unterschiedlicher Typen eines Digitalen-Selbst. Dabei kann zwischen dem erkenntnistheoretische, therapeutische und praxisorientierte Digitalen-Selbst differenziert werden. Die spezifischen Praxen der Planung, Generierung und Reflexion eines jeweiligen Digitalen-Selbst sind auf die Produktion von Selbstwissen, Gestaltungswissen oder Praxiswissen ausgerichtet. Aus den skizzierten Erkenntnisinteressen lassen sich bestimmte Motivationen von Self-Tracker*innen ableiten. Auf dieser Grundlage konnte ich zwischen den Typen Narzisst*innen, Hypochonder*innen und Nerds unterschieden. Als Community-of-Practice dient die Quantified Self-Community den Teilnehmer*innen vor allem zum Austausch und zum wechselseitigen Lernen von Praxiswissen.
Die persönliche Interpretation der Idee einer Selbsterkenntnis durch Zahlen weist in weiten Teilen der Community eine stark ideologische bzw. transhumanistische Konnotation hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Menschen, wissenschaftlicher Methodik und technischen Artefakten auf. Zudem zeige ich in meiner Arbeit auf, dass die Quantified Self-Community bereits zum Zeitpunkt meiner Untersuchung in Auflösung befunden hat und heute beinahe verschwunden ist. Dennoch haben sie mit ihren Aktivitäten der Praxis des Self-Tracking zu entscheidender sozialer, medialer, politischer und ökonomischer Aufmerksamkeit verholfen. Auf diesem Wege hat die Community gleichsam zu einer Technisierung, Popularisierung und Kommerzialisierung der Praxis beigetragen.
Ich habe mich entschlossen den Weg einer digitalen Open-Access-Publikation meiner Forschungsarbeit zu gehen und lade alle Leser*innen zum Feedback und zur Diskussion ein. Meine Forschungsarbeit finden Sie unter:
https://opus4.kobv.de/opus4-ku-eichstaett/frontdoor/index/index/docId/708
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