Von zähen Innovationsprozessen, dem Ethikrat sowie den Grundlagen einer Allokationsethik

Publikationsdatum: 03.06.16 16:00    Letzte Aktualisierung: 12.07.18 16:19

Editorial zum Online-Neuerscheinungsdienst "ÜBERDENTAELLERRAND" (NED) ? Mai 2016

? Mit einer frustrierten Vision hat sich Bela Peterson in seiner Dissertation Vision Elektrofahrzeug - und warum es nicht weit kam: eine empirische Untersuchung zur Non-Diffusion des Elektrofahrzeugs 1967 bis 2012 befasst. Die Promotion erfolgte 2015 an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr in München. Dass der Autor mehr als 15 Jahre Erfahrung als Berater bei Automobilherstellern und Zulieferern für sich in Anspruch nimmt, macht neugierig. Derzeit ist er als Chief Operating Officer der Proton Motor Fuel Cell GmbH, eines Herstellers von Brennstoffzellen und -systemen, tätig. Ein weiterer Grund, Aufmerksamkeit auf diese Arbeit zu lenken, liegt in ihrem TA-nahen methodischen Vorgehen.

Der Frage nach dem Scheitern der Vision bzw. der langsamen Diffusion von Elektrofahrzeugen geht Peterson nach, ?indem er die Verbreitung von Elektrofahrzeugen im Zeitraum von 1967 bis 2012 verfolgt. Dazu konzipiert er Elektromobilität als eine Nachhaltigkeitsinnovation, die zwar gesellschaftlich wünschenswerten Zielen dient, aber sich nicht im Selbstlauf durchsetzt. Um die hemmenden Faktoren zu verstehen, müssen einerseits die Teilsysteme Fahrzeug, Verkehr und Energie integrativ betrachtet, andererseits Wissens-, Wert- und Interessenkonflikte der beteiligten Akteure berücksichtigt werden. Dabei stützt sich der Autor auf organisations- und wirtschaftswissenschaftliche Theorien und untermauert sein sozio-technisches Modell empirisch durch Interviews mit Experten aus Forschung und Industrie? (vgl. Verlagsinformation). /// Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1079750320/04

? Einem anderen zähen Innovationsprozess, dem der Photovoltaik, ist die Promotion von Timur Ergen gewidmet, die den Titel trägt: Große Hoffnungen und brüchige Koalitionen: Industrie, Politik und die schwierige Durchsetzung der Photovoltaik. Ergen ist Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln, und in der Reihe des Instituts im Campus Verlag ist die Arbeit nun publiziert worden. Für seine Dissertation wurde er im November 2015 mit dem Theodor-Wessels-Preis für herausragende wissenschaftliche Arbeiten im Bereich der Energiewirtschaft ausgezeichnet.

Die These der Arbeit ist, dass die Photovoltaik trotz hohen Mobilisierungspotenzials in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft und großzügiger Förderung wegen Problemen sektoraler Ordnung ohne Marktchancen blieb. In Industrie und Politik kam es wiederkehrend zu Umsetzungsproblemen und Konflikten, die verhinderten, dass die Solartechnik effektiv weiterentwickelt und kontinuierlich unterstützt wurde (vgl. Verlagsinformation).

Einige Einsichten Ergens lassen sich auch in einem Interview nachlesen, das Hartmut Steiger für die VDI-Nachrichten mit dem Autor führte, und das unter dem Titel ?In der Solarbranche kämpfte jeder für sich? am 15. April 2015 veröffentlicht wurde. /// Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1070855170/04

? Die Dissertation Gordian Ezazis, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der NRW School of Governance/Universität Duisburg-Essen, ist in der Reihe der NRW School of Governance bei Springer veröffentlicht worden. Sie behandelt Ethikräte in der Politik: Genese, Selbstverständnis und Arbeitsweise des Deutschen Ethikrates und wird vom Verlag als ?erste umfassende Untersuchung des Deutschen Ethikrates? präsentiert (vgl. Verlagstext). Was die Arbeit Ezazis leisten soll, lässt sich in kompakter Form dem Geleitwort seines Doktorvaters, Christoph Bieber, entnehmen:

?Eine umfassende Funktionsbestimmung, die sich mit ?Arbeitsweise und Selbstverständnis? einer bereits mehrfach gewandelten Institution innerhalb des parlamentarischen Raums auseinandersetzt, hat anhin gefehlt. Diese Lücke wurde nun geschlossen. Mit Hilfe seiner umfangreichen empirischen Untersuchung entlang der Arbeitsprozesse und -zeugnisse des Ethikrats sowie zahlreichen Experteninterviews mit Mitgliedern und Mitarbeitern ist Gordian Ezazi nicht nur ein facettenreiches Portrait, sondern auch ein substanzieller Beitrag zur modernen politischen Systemforschung gelungen, der zugleich auf das Feld der Angewandten Ethik ausgreift.

Die mit großer Sach- und Materialkenntnis entwickelte Genealogie eines ethischen Beratungsgremiums skizziert auch die Emanzipation eines parlamentarischen Akteurs. Entstanden als Nationaler Ethikrat zu Zeiten der Schröderschen ?Kommissionitis? hat sich der Deutsche Ethikrat längst nicht nur als ?Sachverständigenrat für Moralfragen? etabliert, sondern gleich mehrfach den Weg zu Abstimmungen ohne Fraktionszwang gewiesen. Das Resultat waren ?Sternstunden der Demokratie? ? lebhafte, ergebnisoffen geführte und gesellschaftlich breit wahrgenommene Parlamentsdebatten. An dieser Stelle zeigt sich auch das Innovationspotenzial eines unwahrscheinlichen Akteurs in der immer stärker spezialisierten und zerklüfteten Machtarchitektur des Bundestages. Während die politischen Problemdiagnosen immer komplexer werden und den Abgeordneten größere Handlungsschnelligkeit abfordern, wirkt der Ethikrat als eine Art innerparlamentarische Zeitmaschine. Der präzise Blick auf die Funktionszusammenhänge führt zur Beschreibung einer institutionellen Lernkurve, die eine weitere, künftig noch genauer zu betrachtende Forschungsfrage evoziert: Kann der Ethikrat parlamentarische Arbeitsroutinen erneuern und eröffnet er dadurch einzelnen Abgeordneten neue Entscheidungsspielräume?? (S. V-VI). /// Inhaltsverzeichnis http://d-nb.info/108091823x/04

Allokationsethik_Lübbe? Die nächste herauszustellende Publikation wurde von Weyma Lübbe verfasst, die seit 2009 in Regensburg als Professorin für Praktische Philosophie lehrt und forscht, gleichzeitig noch Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ist, und Mitglied im Deutschen Ethikrat war. Nebenbei bemerkt ist Weyma Lübbe auch die Tochter von Hermann Lübbe, wie uns die Deutsche Nationalbibliothek verrät: http://d-nb.info/gnd/120022478. Ihr Buch trägt den Titel Nonaggregationismus: Grundlagen der Allokationsethik.

Das Thema ist insbesondere im Zusammenhang mit der ?Priorisierungsdebatte? in der öffentlichen Gesundheitsversorgung relevant, wo es um den Umgang mit knappen medizinischen Ressourcen geht (Organe, Prothesen, Therapien etc.). Die Autorin spricht dabei dem Kriterium der Kosteneffizienz eine gegenüber Gerechtigkeitserwägungen eigenständige normative Bedeutung ab. Sie bricht dabei mit dem begrifflichen und axiomatischen Erbe der utilitaristischen Tradition und seiner Fortwirkung im heute sogenannten Konsequentialismus (vgl. Inhaltstext).

Einen guten Einstieg in die Thematik und einen Eindruck von der klaren Diktion der Autorin mag ihr Sondervotum in der Ethikkommission geben, das abgedruckt ist in: Deutscher Ethikrat Berlin (Hrsg.): Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen. Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011, S. 98-124, und das auch online verfügbar ist. Vielleicht waren die Diskussionen im Ethikrat sogar der Stachel, der Weyma Lübbe veranlasst hat, sich noch einmal grundlegend mit der Allokationsethik zu befassen.

Es könnte sich anbieten, die ökonomischen, rechtlichen und ethischen Überlegungen dieser Arbeit auch in Debatten um die Einführung teurer technologischer Innovationen im Gesundheitswesen einzubeziehen, mit denen es das Health Technology Assessment (HTA), aber auch die TA allgemein, immer wieder zu tun bekommt. /// Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1070195901/04.

geschrieben von Knud Böhle | 21287 Aufrufe, 0 Kommentare allokationsethik elektrofahrzeug ethikrat gesundheitwesen photovoltaik wissenschaftliche politikberatung
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