Kontext
Als Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape vom Institut für Soziologie der Universität Stuttgart 2013 das Diskussionspapier ?Zwischen Individuum und Organisation: Neue kollektive Akteure und Handlungskonstellationen im Internet? als Forschungsskizze veröffentlichten, diagnostizierten die beiden Autoren einen Nachholbedarf der soziologischen Internetforschung: Zwar habe es bereits vor fünf Jahren zahlreiche Arbeiten zum Einfluss von ?Crowd, Swarms, Publics und Networks? gegeben, doch es mangelte an vergleichenden, konzeptionellen Arbeiten, die eine kritische Analyse dieser Phänomene ermöglichten, so die Autoren. Mit der Veröffentlichung ihres Buches ?Collectivity and Power on the Internet? bei Springer VS liegen einschlägige, teilweise bereits publizierte Arbeiten der letzten Jahre von Dolata und Schrape nun gebündelt vor ? und zwar sowohl in einer englischsprachigen als auch einer deutschsprachigen Ausgabe. Die beiden Autoren bieten unter dem Vorsatz organisationssoziologischer Anschlussfähigkeit eine detaillierte Synopse des Forschungsfeldes. Die Leitfrage des Buches wird dabei theoretisch, historisch und anhand ökonomischer Daten zu beantworten versucht: Wie ermöglicht, leitet, beeinflusst und verändert das Internet die Selbstorganisation kollektiver Akteure und welche gesellschaftlichen Folgen lassen sich darin beobachten? Dolata und Schrape untersuchen am Leitfaden dieser und verwandter Fragen soziale Bewegungen, Open-Source Projekte sowie die zunehmende Machtkonzentration einer Handvoll Internet-Giganten ? und ihr auf empirische Analyse zielendes Konzept lässt ausreichende kritische Distanz nicht vermissen.
Eine Typologie, soziale Bewegungen, Open Source und Internet-Godzillas
Das Buch ist gegliedert in ein einleitendes Kapitel und vier exemplarische Bereiche bzw. Kapitel, in denen Kollektivität und Macht spezifische Formen annehmen. In den ersten beiden Kapiteln entwickeln die Autoren das Analyseschema für Macht im Internet und deren Akteurstypen. Die Kapitel 4 und 5 beobachten und erklären Tendenzen der Machtzentrierung zu großen Plattformanbietern im Wechselverhältnis mit Open Source Projekten.
In ihrer Klassifikation folgen Dolata und Schrape dem akteurszentrierten Institutionalismus von Fritz W. Scharpf und Renate Mayntz (1995). Im Gegensatz zum politikwissenschaftlichen Neo-Institutionalismus wird der Institutionenbegriff bei Scharpf und Mayntz enger gefasst und umfasst im Gegensatz zum kulturalistischen Institutionenbegriff auch intentional gestaltbare Aspekte: ?Institutionelle Faktoren bilden vielmehr einen - stimulierenden, ermöglichenden oder auch restringierenden - Handlungskontext." (ebd., S. 43 ff.). Dolata und Schrape folgen dem akteurszentrierten Institutionalismus auch in der Ausweitung der klassischen Differenz von Individuum und Organisation: Nicht-organisierte Individuen, können sich bei vergleichbarer Orientierung als ein auf Makro-Ebene modellierbares Aggregat verhalten; kollektive Akteure verfügen bedingt über Möglichkeiten intentionalen Handelns, ohne dabei wie korporative Akteure [= klassische Organisation] explizit bindende Hierarchie- und Mitgliedschaftsbestimmungen auszubilden (Dolata/Schrape 2018, S. 9 ff.).
Dolata und Schrape erweitern diese heuristisch-analytische Perspektive des akteurszentrierten Institutionalismus um Möglichkeiten technischer Infrastrukturen mit einem Hinweis auf Lawrence Lessigs ?Code is Law ?about the change from a cyberspace of anarchy to a cyberspace of control? (Lessig 2006, S. 5). Die technische Infrastruktur bildet ein potenziell funktionales Äquivalent zu sozialen Institutionen, wie sie exemplarisch an der algorithmischen News-Filterung im Vergleich zur journalistischen Selektionslogik erläutern (Dolata/Schrape 2018, S. 41, S. 49). Feedback-Systeme, Like-Buttons, Benutzeroberflächen und Twitter Emojis erzeugen und leiten gegenseitige Beobachtungs- und Koordinationsmöglichkeiten sozialer Aggregate, die sich bei zunehmender Qualität der Selbst-Referenz als Swarms, Crowds, Publics, Communities, Social Movements und Corporations unterscheiden lassen (siehe Tabelle 1): kollektive Akteure entstehen, wenn das Kollektiv beginnt sich hinreichend reflexiv auf die Bedeutung, beispielsweise ihrer 100, 1000, oder 10.000.000 Likes, Shares oder Follower, zu beziehen und darüber eine stabilisierende Gruppenidentität, reflektierte Perspektive oder Zielorientierung ausbildet (ebd., S. 14, S. 41; vgl. auch Luhmann 1987, S. 601).
Table 1: Typologie kollektiver Akteure (Eigene Darstellung nach Dolata/Schrape 2018, S. 11 ff.)
Im weiteren Verlauf diskutieren und differenzieren die Autoren an einschlägigen Studien den technischen Einfluss auf die Akteursformen: Elitestrukturierte, klar fokussierte Gruppen, wie Wikileaks (*2006) oder Pirate Bay (*2003), können auf Basis eigener technischer Onlineplattformen in geschlossenen Kernstrukturen auf qualitativ andere Weise auf subversive Aktivitäten abzielen, während klassische soziale Bewegungen, wie die G8/G20 Proteste (*2001, *2007, *2017) und die TTIP/CETA Proteste (*2014), oder die lose vernetzte Occupy Bewegung (*2011) in ihrer öffentlichen Kommunikation, Mobilisierung und Kommunikation, hingegen stark auf bestehende, webbasierte Infrastrukturen zurückgreifen (ebd., S. 20 f.). Einerseits profitieren soziale Bewegungen in ihrer Entstehung, Verbreitung, fortdauernden Koordination und Identitätsaushandlung durch Internetplattformen, wie YouTube, WhatsApp oder Twitter, sowie durch Wikis und E-Mailverteiler (ebd., S. 34, S. 40). Andrerseits unterliegen sie dabei in ihrer Autonomie den Algorithmen der Plattformanbieter und sind anfällig für willkürlichen Restriktionen, Zensur, Löschung und Überwachung durch Unternehmen, Geheimdienste oder autoritäre Regierungen (ebd., 42-43). Dolata und Schrape unterscheiden soziale Bewegungen hinsichtlich ihrer institutionellen Bedingungen und technisch erweiterten Sozialität in flüchtige, online vermittelte Proteste, wie zum Beispiel #metoo, in strategisch ausgerichtete Bewegungen, wie die Proteste gegen TTIP und CETA, die unter großem Beitrag von Parteien und NGOs, wie Greenpeace und Attac, koordiniert wurden, und in eher offene Bewegungen, die sich eher durch generelle Skepsis gegenüber klassisch hierarischen Organisationsformen auszeichnen, wie zum Beispiel ?We are the 99%? (ebd., S. 43 ff.). Das Internet wird zum wichtigsten Ausgangspunkt neuer sozialer Formationen, doch nicht alle Bedingungen zur Bildung und Stabilisierung dieser kollektiven Akteure sind automatisch durch Internetplattformen gegeben (ebd., S. 22): Mit dem Hinweis auf die identitätsbildende und koordinierende Funktion charismatischer Anführer, geteilter Weltbilder, Visionen, ?face-to-face? Kommunikation und ?klassischer? Leitmedien wie dem Fernsehen, positionieren sich die Autoren explizit gegen die Annahme einer Unabhängigkeit des Digitalen (ebd., S. 49 ff.). In diesem Wechselspiel zwischen kollektiven Akteuren und ihren ermöglichenden und ermöglichten Online-Plattform liegen auch die kritisch-analysierten Anknüpfungspunkte der weiteren Kapitel über Open Source Communities und der Machtverschiebung hin zu den Internetgiganten.
Open Source-Communities sind durch den rebellischen Charakter der anfänglichen Gründungsutopien verwandt mit anderen sozialen Bewegungen: Durch Unabhängigkeit von Marktzwängen, Regeln und herrschenden Hierarchien sollen der Freiheit und Kreativität Vorschub geleistet werden (ebd., S. 58). In diesem Openness-Selbstbild zeigt sich, wie bei den oben genannten offenen Bewegungen, dieselbe Spannung gegenüber den Vorteilen klassisch-hierarchischer Organisationsformen. Während die Open Source-Erfolge häufig entlang der Narrative aus der Entwicklerszene - ohne Berücksichtigung des sozio-ökonomischen Kontexts - erklärt wurden (ebd., S. 59), zeichnet die idealtypisch-differenzierte Analyse von 21 Open Source-Projekten ein ernüchterndes Bild, denn ein offener Quellcode macht noch keine freie Projektstruktur (ebd. S. 78): Die bekannten und großen Projekte, wie zum Beispiel der Linux Kernel, Ubuntu, Wordpress und Mozilla Firefox, sind hierarchisch organisiert. Einige werden von anderen Unternehmen oder ihren Stiftungen geführt, wie zum Beispiel bei Android oder der Cloudservice OpenStack (ebd., S. 70 ff.). Auch heterarchische Infrastrukturprojekte, wie zum Beispiel Typo3 und OpenSSL, sind auf Firmenspenden und explizite Repräsentationspositionen angewiesen. Nur wenige und kleinere Open Source-Projekte blieben dem ursprünglichen Ideal treu und verzichten auf formale Entscheidungsstrukturen, Hierarchien sowie den größeren Einfluss und die finanzielle Abhängigkeit von großen Unternehmen. Die Open Source-Praxis lässt sich deshalb seit etwa 2010 vor allem beschreiben als Innovationsstrategie einer Branche mit schnellen Innovationszyklen (ebd., S. 76 f.).
Aus anderer Perspektive, die einer empirischen Widerlegung digitaler Befreiungsutopien gleichkommt, beobachtet und erklärt Dolata die zunehmender Machtkonzentration auf wenige Organisationen (ebd., S. 85): Unternehmen, wie Amazon, Apple, Facebook, Google und Microsoft, festigen ihren Erfolg als Plattformanbieter durch Netzwerkeffekte und ihre Marktmacht. Sie können Einfluss nehmen auf das Nutzerverhalten zum Beispiel über Datenprofile und Algorithmen. Innerhalb eigener ?Ökosysteme? nehmen sie Einfluss auf Markt und Wettbewerb durch ihre Macht über App-Stores-Regeln, Entwicklertools und Hardwareschnittstellen (ebd., S. 91, S. 101). Während die eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen vor allem vorhandene Technologien weiterentwickeln, erschließen die großen Unternehmen neue Bereiche vor allem durch Aufkaufen kleinerer Startups: die Mächtigen pflegen und nutzen die Nähe zu Open Source-Projekten als strategisches Innovationsfeld, profitieren durch das Ökosystem ihrer Plattformen von Erfolgen, übernehmen bewährte Praktiken oder kaufen schlicht ihre Betriebe auf, wie in einer großen Übersicht dargestellt wird (ebd., S. 93 ff.).
Fazit
Zusammengefasst beobachten die Autoren eine Machtkonzentration im Internet auf wenige Akteure, doch enden sie schließlich mit dem Hinweis, dass verändertes Nutzerverhalten und politische Regularien diese Machtverhältnisse weiterhin in Frage stellen können (ebd., S. 105) ? und sollten? Das Buch liest sich einerseits als gelungene Erklärung von Macht und Kollektivität im Internet entlang der Co-Evolution von Open-Source Projekten und Plattformanbietern und findet nüchtern seinen Platz im Forschungsfeld der Soziologie des Internet aus der Perspektive der Technik- und Organisationssoziologie. Es mag durchaus überraschen, wie ausgeprägt alle großen Open-Source Projekte klassische Organisationsformen teilen und in ökonomischer und hierarchischer Abhängigkeit zu den Internet-Godzillas existieren; ein Vergleich mit ähnlichen Symbiosen ostasiatischer Riesen, wie Alibaba, Baidu, Tencent und Xiaomi (u.a. mit eigenem Android UI: MIUI), blieb dabei leider aus. Andererseits taugt das Buch auch als praktische Einführung in die problemorientierte Forschungsheuristik des akteurszentrierten Institutionalismus. Die Typologie macht die geschilderten Beobachtungen anschlussfähig für viele Themen, wie am Beispiel von Protestbewegungen und deren Organisation gezeigt wird. Politische und technische Entwicklung findet unter neuen Rahmenbedingungen und Beobachtungsmöglichkeiten statt.
Hervorzuheben ist die Kritik am Technik-Determinismus der Digital-Utopien, deren Funktion jedoch leider erst an anderer Stelle aufgegriffen wurde in Co-Autorenschaft mit Sascha Dickel (2017): Utopische Kommunikation in der digitalen Welt dient nicht der Zukunftsprognose sondern als "gegenwärtige Zukunft" einer sachlich-zeitlichen Orientierung sowie der Mitgestaltung gegenwärtiger Diskurse und Selbstvergewisserung von Konstellationen (ebd.). Eine weiterführende Symbiose dieser Perspektive mit den Ansätzen im besprochenen Buch wäre vielversprechend gewesen, etwa um die Ausbildung sozialer Bewegungen, kollektiver Akteure und Innovationsprozesse auch von dieser Seite genauer zu erläutern: Nimmt die Bedeutung utopisch-narrativer Kommunikation für die Ausbildung kollektiver Akteure in einer von Daten und Modellen geprägten, digitalen Welt zu? Oder sind Utopien früher Projektphasen jetzt nur stärker sichtbar und verlieren im Verlauf der Professionalisierung wieder an Bedeutung, wie man am Wandel der Open-Source Projekte beobachten könnte? Man darf sehr gespannt sein auf die Fortsetzung dieser Perspektive in ihren aktuellen Projekten ? zu unter anderem ?Into the Wild: Futures and Responsibilities in Technology Assessment? (Schrape).
Persönlich bin ich vor allem begeistert von der Aktualität der Beispiele, der empirischen Breite und der theoretischen Erklärungskraft: Die Autoren zeigen, dass sich in undogmatischer Sozialwissenschaft Perspektiven der Spieltheorie, Netzwerktheorie, Institutionentheorie und Systemtheorie problemorientiert und sinnvoll ergänzen. Die Autoren folgen dem eingeführten Klassifikationsschema durch das ganze Buch, doch gerade bei Hinweisen auf soziale Institutionalisierungsleistungen in der digitalen Welt hätte ich mir persönlich noch mehr Erklärung gewünscht, da wohl gerade in diesem Begriff noch ein mythisches Erfolgskriterium verborgen bleibt. Der Ausgangspunkt und die Typologie des Buches zeigen sich jedenfalls außerst vielversprechend für eine zeitgemäße und problemorientierte Visionen-, Leitbild und Technikgeneseforschung, welche Bedingungen digitaler Möglichkeiten ernst nimmt, allerdings ohne sich davon blenden zu lassen.
Literaturverzeichnis
Lessig, Lawrence (2006): Code ? Version 2.0; [2. ed.]; New York, NY: Basic Books.
Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme; 15. Aufl.; Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Angaben zum rezensierten Buch
Dolata, Ulrich; Schrape, Jan-Felix (2018): Collectivity and power on the internet. A sociological perspective. Wiesbaden: SpringerBriefs in Sociology, Euro 53,00?, ISBN 978-3319784137
Dolata, Ulrich; Schrape, Jan-Felix (2018): Kollektivität und Macht im Internet ? Soziale Bewegungen - Open Source Communities - Internetkonzerne; Wiesbaden: SpringerVS, Euro 27,00?, ISBN 978-3658179090
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