Kommunikation und Mobilität im digitalen Zeitalter

Publikationsdatum: 08.10.18 22:35    Letzte Aktualisierung: 09.10.18 10:03

Editorial zum Online-Neuerscheinungsdienst "ÜBERDENTAELLERRAND" (NED) September 2018

Keine Frage, sowohl Mobilität als auch Kommunikation sind zentrale Funktionsprinzipien moderner Gesellschaften, die im Zuge der Digitalisierung jedoch grundlegenden Veränderungen unterliegen. Kommunikation wird dank Smartphones und Tablets immer mobiler, Mobilität hingegen vernetzter. Neue Arbeits- und Kommunikationsformen entstehen, die wiederum den gesellschaftlichen Wandel auf verschiedenen Ebenen vorantreiben. Das Editorial zur Septemberausgabe des openTA-Neuerscheinungsdienstes stellt drei Publikationen vor, die verschiedene Aspekte dieser Wandlungsprozesse unter die Lupe nehmen und dabei ganz verschiedene methodische Zugänge und theoretische Perspektiven wählen.

Mit der Frage, wie sich das Mobilitätshandeln der von 1911 bis 2000 Geborenen verändert hat, befasst sich die Dissertation von Lisa Döring (vorgelegt am Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung der TU Dortmund). Der Titel der Arbeit lautet: „Mobilitätsbiografien und Mobilitätssozialisation: Eine quantitative Analyse von Sozialisations-, Alters-, Perioden- und Kohorteneffekten in Alltagsmobilität“ (Inhaltsverzeichnis). Ausgangspunkt ist die naheliegende These, dass für die Ausprägung von Mobilitätsverhalten verschiedene Einflüsse bestimmend sind, zu denen allgemeine gesellschaftliche, raumstrukturelle sowie wirtschaftliche Rahmenbedingungen ebenso gehören wie sehr individuelle Familien- und Lebenslauffaktoren. Die Mobilitätsforschung sowie die Stadt- und Verkehrsplanung stehen vor der Herausforderung, Veränderungen auf all diesen Ebenen in ihrem komplexen Wechselspiel nachvollziehen zu müssen, „um realistische Interpretationen, Projektionen, Prognosen sowie Modellierungen [durchführen] und langfristig angelegte Verkehrsinfrastruktur zielführend gestalten“ zu können (S. 5). Das Problem ist dabei, so Döring, dass die „langfristigen Veränderungen der makrostrukturellen Rahmenbedingungen“ (z.B. allgemeiner Wertewandel, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse etc.) relativ gut untersuchbar seien, da sie sich als Muster in den aggregierten Mobilitätskennzahlen (Pkw-Führerscheinbesitz, Pkw-Nutzung, Berufswegedistanz etc.) abzeichnen.Die biografischen Einflüsse im Lebensverlauf seien dagegen bislang kaum untersucht. Dies habe zur Folge, dass „die Muster und Entwicklungen hinter den bekannten aggregierten Mobilitätskennzahlen bisher nicht vollständig“ verstanden seien (S. 4).

Ziel der Untersuchung von Lisa Döring ist, dieses Defizit zu beheben. Dazu greift sie auf das relativ neue Konzept der Mobilitätsbiografie zurück, um den Einfluss biografischer Ereignisse auf das Mobilitätsverhalten sichtbar zu machen – all dies im Rahmen einer streng quantitativen Analyse. So werden, wie es in der Kurfassung heißt, „erstens ein theoretisch-konzeptueller Rahmen erarbeitet, zweitens Mobilitätsbiografien verschiedener Kohorten vergleichend untersucht und drittens die Bedeutung von Mobilitätssozialisation der Eltern, des Älterwerdens sowie von Veränderungen in anderen Teilbiografien für das Mobilitätshandeln untersucht“.

Auf der Liste der Neuerscheinungen findet sich eine weitere Dissertation, die sich mit dem Thema „Mobilität und gesellschaftlicher Wandel“ beschäftigt, dabei jedoch einen ganz anderen Blickwinkel einnimmt: Im Fokus der Arbeit „Kommunikative Mobilität“ von Matthias Berg, der als Forscher am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung der Universität Bremen tätig ist, steht das „Wechselverhältnis von Mobilität, sozialen Beziehungen und Medienkommunikation“ (S. 9) (Inhaltsverzeichnis). Der Autor geht der Frage nach, „wie sich Menschen Medien zur wechselseitigen Kommunikation aneignen, um ihre Beziehungen in Situationen erhöhter Mobilität aufrechtzuerhalten“ (S. 48). Zugrunde liegt dem Ganzen ein „kommunikations- und medienwissenschaftlich ausgerichtetes Betrachtungsmodell“, das als „kommunikative Mobilität“ beschrieben wird und „durch den Bezug auf lokale Mobilität aber Anschlussstellen insbesondere zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung aufweist“.

Auch hier ist offensichtlich das Ziel, gesellschaftliche Wandlungsprozesse wie Individualisierung, Mediatisierung und Mobilisierung in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu erfassen. Grundlage der Untersuchung bilden jedoch keine quantitativen Kennzahlen, sondern ausführliche Gespräche mit 22 beruflich mobilen Menschen, die qualitativ ausgewertet wurden, um die Strukturen und Praktiken ihrer kommunikativen Vernetzung sichtbar zu machen. Die Arbeit, die 2016 mit dem Dissertationspreis “Medien-Kultur-Kommunikation” ausgezeichnet wurde, schließt mit dem Versuch, die Grundzüge einer formalen Theorie kommunikativer Mobilität zu entwerfen.

Dass kommunikative Aktivitäten im digitalen Zeitalter zunehmend von physischen in virtuelle Räume verlagert werden, wie auch die Studie von Matthias Berg deutlich macht, ist sicherlich keine überraschende Erkenntnis. Aber was bedeutet es für die Moral, wenn „wenn ein großer Teil unserer Kommunikation im abstrakten Face-to-Interface und nicht mehr von Angesicht zu Angesicht stattfindet“? Dieser angesichts von zunehmender Hate-Speech im Internet hochrelevanten (wenn auch ebenfalls nicht ganz neuen) Frage geht der Sammelband „Face-to-Interface. Werte und ethisches Bewusstsein im Internet“ nach, der von Yvonne Thorhauer und Christoph A. Kexel herausgegeben wurde (beide Professoren an der accadis Hochschule Bad Homburg). Die Autorinnen und Autoren spannen einen weiten Bogen: Sie skizzieren „eine Internet-Ethik vor dem Hintergrund einer zunehmenden Spaltung zwischen einer digitalen Elite einerseits (etwa Facebook, Apple und Google) und einem datafizierten Proletariat andererseits“, erörtern „die Unverzichtbarkeit eines aufgeklärt-kritischen Users“, betonen die Bedeutung sozialer Medienkompetenz und regen schließlich “einen Gesellschaftsvertrag für die Netzwerkgesellschaft an“ (Klappentext) (Inhaltsverzeichnis). Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die 2016 von der accadis Hochschule und dem Ethikverband der deutschen Wirtschaft e.V. veranstaltet wurde.

Schließlich sei noch kurz auf zwei weitere Neuerscheinungen hingewiesen, die sich ebenfalls mit den kommunikativen Eigenheiten des digitalen Zeitalters auseinandersetzen: Band 36 des Jahrbuchs Rhetorik, herausgegeben von Francesca Vidal, ist dem Thema „Rhetorik im digitalen Zeitalter“ gewidmet (Inhaltsverzeichnis); mit der „Zukunft der Kommunikation“ beschäftigt sich ein Reader, der Beiträge der Wiener Zeitschrift Falter zum Thema versammelt (Inhaltsverzeichnis).

Für die Septemberausgabe des NED wurden insgesamt 19 Buchttitel ausgewählt. Zugrunde lagen 100 Buchtitel, die durch einen automatisierten thematischen Suchlauf aus dem aktuellen Datenbestand der Deutschen Nationalbibliothek gefiltert wurden.

Der Sammelband „Governance für eine Gesellschaftstransformation“  wurde von von Jana Rückert-John und dem NTA-Mitglied Martina Schäfer, der wissenschaftlichen Geschäftsführerin des Zentrums Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin, herausgegebenen. Weitere Titel, die von NTA-Mitgliedern stammen, konnten nicht identifiziert werden.

Die bibliografischen Angaben der insgesamt 19 NED-Titel von September lauten im Einzelnen:

1. Bazzanella, Alexis; Krämer, Dennis (Hg.) (2017): Technologien für Nachhaltigkeit und Klimaschutz - chemische Prozesse und stoffliche Nutzung von Co2. Ergebnisse der BMBF-Fördermaßnahme. Frankfurt am Main: DECHEMA Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie e.V, Datenstand: Juni 2017, 978-3-89746-190-1, 326 Seiten.

2. Berg, Matthias (2017): Kommunikative Mobilität. Die mediale Vernetzung beruflich mobiler Menschen. Wiesbaden: Springer VS, 978-3-658-15940-5, 320 Seiten.

3. Blatt, Markus; Sauvonnet, Emmanuel (Hg.) (2017): Wo ist das Problem? Mit Design Thinking Innovationen entwickeln und umsetzen. München: Verlag Franz Vahlen, 2., komplett überarbeitete Auflage, 978-3-8006-5318-8, 233 Seiten.

4. Döring, Lisa (2017): Mobilitätsbiografien und Mobilitätssozialisation. Eine quantitative Analyse von Sozialisations-, Alters-, Perioden- und Kohorteneffekten in Alltagsmobilität. Dortmund, XVI, 338 Seiten.

5. Elsland, Rainer (2016): Long-term energy demand in the German residential sector. Development of an integrated modelling concept to capture technological myopia. Baden-Baden: Nomos, 978-3-8487-2631-8, 338 Seiten.

6. Esland, Rainer (2016): Die Zukunft der Kommunikation. Ein Reader. Wien: Falter Zeitschriften GmbH, 63 Seiten.

7. Gottschlich, Daniela (2017): Kommende Nachhaltigkeit. Nachhaltige Entwicklung aus kritisch-emanzipatorischer Perspektive. Baden-Baden: Nomos, 978-3-8487-1675-3, 576 Seiten.

8. Gremmel-Simon, Hildegard (Hg.) (2017): Zukunft der Gebäude. Digital - dezentral - ökologisch : e-nova, internationaler Kongress 2017 : 23. und 24. November 2017, Band 21. Graz: Leykam, 978-3-7011-0399-7, 439 Seiten.

9. Juniper, Tony (2017): Unsere Erde unter Druck. München: DK, 978-3-8310-3285-3, 223 Seiten.

10. Kexel, Christoph A.; Thorhauer, Yvonne (Hg.) (2017): Face-to-Interface. Werte und ethisches Bewusstsein im Internet. Wiesbaden: Springer Gabler, 978-3-658-17154-4, 130 Seiten.

11. Lemke, Thomas (2017): Reproduktion und Selektion. Gesellschaftliche Implikationen der Präimplantationsdiagnostik. Wiesbaden: Springer VS, 978-3-658-17840-6, 85 Seiten.

12. Ochs, Franziska Luisa (2017): Klimaalltag. Wie sich Klimawandel und Umweltmigration in einem Küstenort in England begegnen. Marburg: Tectum Verlag, 978-3-8288-3877-2, 274 Seiten.

13. Pflaum, Alexander (Hg.) (2017): IT-outsourcing behavior in the logistics sector within the context of digitalization. An international systematic and comparative scenario analysis. Stuttgart: Fraunhofer Verlag, 978-3-8396-1134-0, iv, 209, xiii-xl Seiten.

14. Politische Akademie der ÖVP (Hg.) (2016): #innovationsbericht_digital. Impulse für Österreichs Erfolg in der digitalen Welt. Wien: Verlag noir, 978-3-9504138-2-3, 56 Seiten.

15. Rückert-John, Jana; Schäfer, Martina (Hg.) (2017): Governance für eine Gesellschaftstransformation. Herausforderungen des Wandels in Richtung nachhaltige Entwicklung. Wiesbaden: Springer VS, 978-3-658-16559-8, 316 Seiten.

16. Schwendemann, Wilhelm (2017): Pflegeethik - auch das noch! Eine qualitativ-empirische Studie zur Professionsethik in den Pflegeberufen. Neu-Ulm: AG SPAK. Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Arbeitskreise, 978-3-945959-20-6, 293 Seiten.

17. Steinle, Christian P. (2017): Persönlichkeit, soziale Netzwerke und Leistung von Erfindern. Empirische Analysen von Befragungs- und Patentdaten. Wiesbaden: Springer Gabler, 978-3-658-17302-9, XXII, 191 Seiten.

18. Vidal, Francesca (Hg.) (2017): Rhetorik im digitalen Zeitalter. Berlin: De Gruyter, 145 Seiten.

19. Wang, Yong (Hg.) (2017): ESSE 2017. Proceedings of the International Conference on Environmental Science and Sustainable Energy. Berlin: De Gruyter, 978-3-11-053913-4, xxv, 898 Seiten.

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