Provoziert er noch, der Blick aufs Ganze?

Publikationsdatum: 16.02.18 11:15    Letzte Aktualisierung: 12.07.18 16:19

Editorial zum openTA-Neuerscheinungsdienst  (NED)?ueberdeNTAellerrand?    Januar 2018

1972 erschien mit der Studie ?Die Grenzen des Wachstums? ein Buch, das wie nur wenige andere die Debatten um den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und die Zukunft der Menschheit beeinflusst hat, allenfalls wäre mit einer ähnlichen Wirkung zu nennen etwa der ?Der Atomstaat? (1977) von Robert Jungk  oder ?Der stumme Frühling? (1962) von Rachel Carson. Beauftragt vom 1968 gegründeten Club of Rome, finanziert von der Volkswagenstiftung, durchgeführt vom Jay Wright Forresters Institut für Systemdynamik, kam die erste Studie zu dem denkwürdigen Schluss: ?Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.?[1] 20 Jahre später wurde die Studie ?Die neuen Grenzen des Wachstums? veröffentlicht, die zu ähnlichen Ergebnissen kam, genau wie auch einige weitere Updates der Studie.

Immerhin sind nunmehr 46 Jahre von dem 1972 projektierten Zeitraum ?im Lauf der nächsten hundert Jahre? vergangen. Der Club of Rome hat die nahende Halbzeit zum Anlass genommen eine neue Prognose zu veröffentlichen: ?Come On! Capitalism, Short-termism, Population and the Destruction of the Planet? greift bereits im Titel die großen Herausforderungen unserer Zeit auf. Leider blieb ? wie so oft ? von der Direktheit des Titels in der deutschen Übersetzung wenig übrig. Dem Gütersloher Verlagshaus beliebte es vielmehr zu titeln: ?Wir sind dran - Club of Rome: Der große Bericht: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt.? (Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman u.a.) Dem Verlag ist es so aber gelungen, die etwas optimistischere Stimmung dieser Studie einzufangen, wenn auch ein wenig unbeholfen: ?Wir verfügen über genügend Wissen, die erforderlichen Veränderungen für den Erhalt der Welt zu schaffen.? (Ernst Ulrich von Weizsäcker) Die Autoren konstatieren eine Zunahme an Krisen. Nicht nur haben wir es mit einer ökologischen Krise, sondern auch mit einer sozialen und politischen Krise zu tun, sowie einer kulturellen und moralischen. Demokratie, Ideologie, Kapitalismus befänden sich in der Krise und Milliarden Menschen hätten das Zutrauen in ihrer Regierungen verloren, der Populismus greife um sich (21 f.). 

Im ersten Hauptteil des Buches ?Die heutigen Trends sind gar nicht nachhaltig / C?mon! Don?t Tell Me the Current Trends Are Sustainable!? widmen sich die Autoren gegenwärtigen Entwicklungen, sie versuchen sozusagen den Ist-Zustand aufzuzeichnen und kommen zu dem wenig überraschenden Schluss, dass es eigentlich nicht so weiter gehen kann. Der zweite Teil ?Auf dem Weg zu einer neuen Aufklärung / C?mon! Don?t Stick to Outdated Philosophies!? ist den konzeptionellen Fehlern des Marktdogmas und der Kritik reduktionistischer Theorien gewidmet. Dagegen setzen die Autoren auf eine neue Aufklärung, auf eine Philosophie der Balance. Der Dritte Teil ?Eine spannende Reise zur Nachhaltigkeit / Come On! Join Us on an Exciting Journey Towards a Sustainable World!? zeigt alternative Ansätze auf, die den Weg zu mehr Nachhaltigkeit ebnen könnten und macht Reformvorschläge.

Im Unterschied zu den ?Grenzen des Wachstums? ist das bisherige Medienecho auf den Vorstoß des Club of Rome eher als verhalten zu bezeichnen. Das könnte daran liegen, dass das Buch eigentlich nichts Neues bietet, wir alle in den Metropolen wissen und spüren, dass es nicht mehr nur ?fünf vor zwölf? ist. Wobei gerade dieser Umstand interessant ist. Die Diagnosen sind landläufig bekannt (vgl. bspw. den Artikel von Markus C. Schulte von Drach Die Zeit der kleinen Schritte ist vorbei ), sie entwickeln aber nur geringe Wirkungsmacht (eigentlich nur dort, wo sie sich mit dem bestehenden Marktliberalismus in Übereinstimmung bringen lassen). Das, was die Autoren fordern ? ein Umdenken im Weltmaßstab, eine Umstellung der Wirtschaftsordnung, also eine wirklich gravierende Veränderung, ein Herumreißen des Ruders, anstatt durch das Herumdoktern an Symptomen lediglich das Bestehende ein wenig grün zu waschen ? scheint zum einen für viele nicht umsetzbar, da uns das gegenwärtige System nicht als geschaffenes, sondern als ?naturwüchsiges? entgegentritt. Die Einsicht, dass es so nicht weiter gehen kann, bleibt zum anderen im schlechten Sinne abstrakt. Menschen leben von Tag zu Tag, solange ?die? Katastrophe nicht eingetreten ist oder eintritt, sondern nur am Horizont dräut. Solange die Regale voll sind, solange besteht für den einzelnen anscheinend kein unmittelbarer Handlungszwang.

Für die Januarausgabe des NED wurden insgesamt 27 Buchtitel aus dem aktuellen Datenbestand der Deutschen Nationalbibliothek ausgewählt. Darunter ist auch eine Neuerscheinung des NTA-Mitglieds Uta Schneider vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung mit dem Titel Urbane Familienmobilität im Wandel wie sind Familien im Alltag mobil und wie bewerten sie neue Mobilitätskonzepte?

Die bibliographischen Angaben der insgesamt 27 NED-Titel Januar 2018 lauten:

1. Antes, Ralf; Müller, Martin; Siebenhüner, Bernd (Hg.) (2016): Umweltmanagement im Nachhaltigkeits- und Verhaltenskontext. Festschrift für Hans-Ulrich Zabel. Marburg: Metropolis-Verlag, 3-7316-1181-3, 344 Seiten.
2. Brecher, Christian et al. (Hg.) (2017): Industrie 4.0 - Vision und Realität. Düsseldorf: VDI Verlag, 978-3-18-369602-4, V, 90 Seiten.
3. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Hg.) (2017): Digitalpolitik Landwirtschaft. Zukunftsprogramm: Chancen nutzen - Risiken minimieren. Berlin: Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Stand August 2017, 39 Seiten.
4. Demir, Ali (2017): Entzauberung durch Diskurs. Eine rechtssoziologische Analyse zu systemischen Risiken und handlungstheoretischen Verantwortlichkeiten : zur Option einer zeitgleichen System- und Sozialintegration. Hamburg: Verlag Dr. Kova?, 3-8300-9400-0, 241 Seiten.
5. Dorostan, Yasmin (2017): Die Zukunft europapolitischer Information und Kommunikation. Eine Delphi-Studie zur Entwicklung von Zukunftsszenarien. Baden-Baden: Nomos, 3-8487-3775-2, 239 Seiten.
6. Gleß, Sabine; Seelmann, Kurt (Hg.) (2016): Intelligente Agenten und das Recht. Baden-Baden: Nomos, 3-8487-3705-1, 256 Seiten.
7. Hahn, Henry (2017): Umwelt- und zukunftsverträgliche Entscheidungsfindung des Staates. Die staatliche Verantwortung für Umweltschutz, dessen Stand bei Interessenkonflikten, die gerechte Durchsetzung mittels gesteuerter Abwägung und das Potential der wissenschaftlichen Politikberatung. Tübingen: Mohr Siebeck,  3-16-155082-X, XXVI, 541 Seiten.
8. Hoffmann, Wilfried (2017): Risikomanagement. Berlin, Germany: Springer Vieweg, 3., neu bearbeitete Auflage, 3-662-55631-6, XIII, 77 Seiten.
9. Kellermann, Katharina (2017): Heroinen der Technik zwischen 1918 und 1945. Selbstinszenierung - Funktionalisierung - Einschreibung ins deutsche kulturelle Gedächtnis. Bamberg: University of Bamberg Press, 978-3-86309-515-4, 360 Seiten.
10. Kempter, Guido; Hämmerle, Isabella (Hg.) (2017): Umgebungsunterstütztes Leben. Beiträge zum Usability Day XV, 22. Juni 2017. Lengerich: Pabst Science Publishers,  3-95853-316-7, 155 Seiten.
11. Kramer, Stefan (2017): IT-Arbeitsrecht. Digitalisierte Unternehmen: Herausforderungen und Lösungen. München: C.H. Beck, 3-406-70715-7, XXXVIII, 456 Seiten.
12. Laeng, Hans-Tommy (2017): Blicke in die Zukunft von anno dazumal. Münster: LIT, 978-3-643-13512-4, i, 184 Seiten.
13. Lenk, Hans (2017): Scheme dynamics. Towards an action- and operation-oriented philosophy of science and technology. Freiburg: Projekt Verlag, 3-89733-427-5, 291 Seiten.
14. Meinel, Christoph; Weinberg, Ulrich; Krohn, Timm (Hg.) (2017): Design thinking live. 30 perspectives on making innovation happen. Hamburg: Murmann, English edition, 3-86774-570-6, 283 Seiten.
15. Meyer, Uli (2016): Innovationspfade. Evolution und Institutionalisierung komplexer Technologie. Wiesbaden: Springer VS, 978-3-531-17587-4, IX, 365 Seiten.
16. Oberlin, Gerhard (2016): Kindheit im elektronischen Zeitalter. Eine Verteidigungsschrift. Würzburg: Königshausen & Neumann, 3-8260-5935-2, 223 Seiten.
17. Otto, Philipp; Gräf, Eike (Hg.) (2017): 3TH1CS. A reinvention of ethics in the digital age? Berlin: iRights.Media, 3-944362-91-8, 232 Seiten.
18. Sauer, Dominik Jan (2017): Biogasanlagen im wohlgeordneten Recht einer nachhaltigen Energiewende. Baden-Baden: Nomos, 3-8487-3727-2, 340 Seiten.
19. Schneider, Uta (2017): Urbane Familienmobilität im Wandel. Wie sind Familien im Alltag mobil und wie bewerten sie neue Mobilitätskonzepte? Karlsruhe: Fraunhofer ISI, 72 Seiten.
20. Stadtwerke Passau (Hg.) (2017): 110 Jahre Strom in Passau. Eine Zeitreise zu technischem Fortschritt und städtischer Entwicklung : 1907-2017. Passau: Stadtwerke Passau GmbH, 102 Seiten.
21. Straub, Jürgen; Métraux, Alexandre (Hg.) (2017): Prothetische Transformationen des Menschen. Ersatz, Ergänzung, Erweiterung, Ersetzung. Bochum: Westdeutscher Universitätsverlag, 1. Auflage, 3-89966-709-3, 228 Seiten.
22. Taeger, Jürgen (Hg.) (2017): Recht 4.0 - Innovationen aus den rechtswissenschaftlichen Laboren. Edewecht: OlWIR, Oldenburger Verlag für Wirtschaft, Informatik und Recht,  3-95599-047-8, XVII, 940 Seiten.
23. Teichert, Volker (2017): Nachhaltigkeitsmanagement. Erfüllung der Anforderungen nach dem CDR-Gesetz : Nachhaltigkeitskonzepte erfassen, Best Practices prüfen, Berichterstattungspflichten erfüllen. Kissing: WEKA-Media GmbH & Co KG, 978-3-8111-3177-4, 204 Seiten.
24. Wansing, Gudrun; Windisch, Matthias (Hg.) (2017): Selbstbestimmte Lebensführung und Teilhabe. Behinderung und Unterstützung im Gemeinwesen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 3-17-030587-5, 183 Seiten.
25. Weber, Karl Matthias (Hg.) (2017): Innovation, complexity and policy. Contributions from 30 years of innovation policy research in Austria. Wien: PL Academic Research, 3-631-72315-6, 230 Seiten.
26. Weizsäcker, Ernst Ulrich von (2017): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 3-579-08693-6, 394 Seiten.
27. Wittpahl, Volker (Hg.) (2017): Digitale Souveränität. Bürger, Unternehmen, Staat. Heidelberg: Springer Vieweg, 978-3-662-55788-4, 193 Seiten.

 

 

[1] Meadows u. a.: Die Grenzen des Wachstums 1972, Übersetzung von Hans-Dieter Heck, 14. Aufl., Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1987, ISBN 3-421-02633-5: S. 17.

geschrieben von Reinhard Heil | 8624 Aufrufe, 0 Kommentare gesellschaftsdiagnose nachhaltigkeit ned
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